17 Redensarten
Passiert einem in Deutschland etwas, versäumt man den Zug, bricht man ein Bein, macht man Pleite, so sagen wir: Schlimmer hätte es nicht kommen können; immer ist das, was passiert, gleich das Schlimmste — bei den Iren ist es fast umgekehrt: bricht man hier ein Bein, versäumt man den Zug, macht man Pleite, so sagen sie: It could be worse — es könnte schlimmer sein: man hätte statt des Beines den Hals brechen, statt des Zuges den Himmel versäumen und statt Pleite zu machen, hätte man seinen Seelenfrieden verlieren können, wozu bei einer Pleite durchaus kein Anlaß ist. Was passiert, ist nie das Schlimmste, sondern das Schlimmere ist nie passiert: stirbt einem die geliebte und hochverehrte Großmutter, so hätte ja auch noch der geliebte und verehrte Großvater sterben können; brennt der Hof ab, die Hühner aber werden gerettet, so hätten ja auch noch die Hühner verbrennen können, und verbrennen sie gar: nun — das Schlimmere: daß man selbst gestorben wäre, ist ja nicht passiert. Stirbt man gar, nun, so ist man aller Sorgen ledig, denn jedem reuigen Sünder steht der Himmel offen, das Ziel mühseliger irdischer Pilgerschaft — nach gebrochenen Beinen, versäumten Zügen, lebend überstandenen Pleiten verschiedener Art. Bei uns — so scheint mir — versagen, wenn etwas passiert, Humor und Phantasie; in Irland werden sie gerade dann in Bewegung gesetzt. Jemandem, der das Bein gebrochen hat, mit Schmerzen daliegt oder im Gipsverband herumhumpelt, klarzumachen, daß es schlimmer hätte sein können, ist nicht nur tröstlich, sondern auch eine Beschäftigung, die poetische Begabung voraussetzt, leichten Sadismus nicht immer ausschließt: die Qualen eines Halswirbelbruchs auszumalen, vorzuführen, wie eine verrenkte Schulter sich ausmachen würde, zerschmetterte Schädel — der Beinbrüchige humpelt getröstet von dannen, sich selig preisend ob solch geringfügiger Mißbill.
So hat das Schicksal unbegrenzten Kredit, und die Zinsen zahlt man willig und ergeben; liegen die Kinder da, keuchhustend und jämmerlich, der hingebenden Pflege bedürftig, so soll man sich glücklich preisen, daß man selbst noch auf den Beinen ist, die Kinder pflegen, für sie arbeiten kann. Hier ist der Phantasie keine Grenze gesetzt. It could be worse ist eine der am meisten gebrauchten Redensarten wohl deshalb, weil es oft genug recht schlimm kommt und das Schlimmere dem Trost die Relation bietet.
Die Zwillingsschwester von Es könnte schlimmer sein ist die Redensart, ebenso häufig gebraucht: I shouldn’t worry — ich würde mir keine Sorgen machen, und das bei einem Volk, das allen Grund hätte, weder bei Tag noch bei Nacht auch nur eine Minute ohne Sorge zu sein: vor hundert Jahren, als die große Hungersnot kam, Mißernten einige Jahre hindurch, diese große nationale Katastrophe, die nicht nur unmittelbar verheerend wirkte, sondern deren Schock sich durch die Generationen bis auf heute vererbt hat: vor hundert Jahren hatte Irland wohl sieben Millionen Einwohner; so wenig Einwohner mag auch Polen damals gehabt haben, aber heute hat Polen mehr als zwanzig Millionen Einwohner und Irland deren knapp vier, und Polen — Gott weiß es — ist wahrhaftig von seinen großen Nachbarn nicht geschont worden.
Dieser Rückgang von sieben auf vier Millionen bei einem Volk, das Geburtenüberschuß hat: das bedeutet Ströme von Auswanderern.
Eltern, die ihre sechs (nicht selten sind es acht oder zehn) Kinder heranwachsen sehen, hätten Grund genug, sich Tag und Nacht zu sorgen, und sicher tun sie es, aber auch sie sprechen den Spruch, mit jenem Lächeln der Ergebenheit: Ich würde mir keine Sorgen machen. Noch wissen sie nicht, und nie werden sie es genau wissen, wie viele von ihren Kindern die Slums von Liverpool, London, New York oder Sydney bevölkern — oder ob sie Glück haben werden. Eines Tages jedenfalls wird die Abschiedsstunde kommen, für zwei von sechs, für drei von acht: Sheila oder Sean werden mit ihrem Pappkarton zur Bushaltestelle ziehen, der Bus wird sie zum Zug, der Zug sie zum Schiff bringen: Ströme von Tränen an Bushaltestellen, auf Bahnhöfen, am Kai in Dublin oder Cork in den regnerischen, trostlosen Herbsttagen: durch Moor an verlassenen Häusern vorbei, und niemand von denen, die weinend zurückbleiben, weiß sicher, ob man Sean oder Sheila noch einmal wiedersehen wird: weit ist der Weg von Sydney nach Dublin, weit der von New York hierher zurück, und manche kehren nicht einmal von London wieder heim: heiraten werden sie, Kinder haben, Geld nach Hause schicken; wer weiß.
Während fast alle europäischen Völker sich fürchten vor einem Mangel an Arbeitskräften, manche ihn schon verspüren, wissen hier zwei von sechs, drei von acht Geschwistern, daß sie werden auswandern müssen, so tief sitzt der Schock der Hungersnot; von Geschlecht zu Geschlecht erweist das Gespenst seine schreckliche Wirkung; manchmal mochte man glauben, dieses Auswandern sei etwas wie eine Angewohnheit, wie eine selbstverständliche Pflicht, die man einfach erfüllt — die ökonomischen Gegebenheiten machen es wirklich notwendig: Als es Freistaat wurde, im Jahre 1923, hatte Irland nicht nur fast ein Jahrhundert industrieller Entwicklung nachzuholen, es hatte auch mit allem, was sich an Entwicklung ergab, noch Schritt zu halten; fast keine Städte gibt es, kaum Industrie, keinen Markt für die Fische. Nein, Sean und Sheila werden auswandern müssen.